Montag, November 23, 2009

"Die wunderbare Unzerreißbarkeit der Gesellschaft"

Auf der Suche nach neuen Impulsen, habe ich mir - Achtung! Paradoxieverdacht! - wieder einen Klassiker vorgenommen, Simmel's Soziologie.

Bereits das erste Kapitel, welches das Problemfeld der Soziologie zu bestimmen versucht, bietet vielfältige Anschlussmöglichkeiten. Sei es, dass Simmel die Differenz von Form und Inhalt auffächert (17ff), sei es, dass er Gesellschaft als Einheit von Wechselwirkung zwischen Elementen (18ff) analysiert. Auch die Trennung der physiologischen und psychologischen (Individualebene) sowie der davon abstrahiert - aber eben auch verknüpft - zu beobachteten gesellschaftlichen Ebene wird ausgeführt (35ff).

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"Was fortwährend an physischen und seelischen Berührungen, an gegenseitiger Erregung von Lust und Leid, an Gesprächen und Schweigen, an gemeinsamen und antagonistischen Interessiertheiten vor sich geht - das erst mach die wunderbare Unzerreißbarkeit der Gesellschaft aus, das Fluktuieren ihres Lebens, mit dem ihre Elemente ihr Gleichgewicht unaufhörlich gewinnen, verlieren, verschieben."

aus: Georg Simmel, Das Problem der Soziologie, S.34. In: ders. (1992, erstmals 1908): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Bd. II, Suhrkamp

Dienstag, November 17, 2009

Soziales Totalphänomen "Essen"

Marcel Mauss hat Essen als soziales Totalphänomen bezeichnet und Karin A. Lucas gibt die Statistik wieso:

"Statistisch gesehen nimmt der Mensch im Laufe seines Lebens etwa 75.000 bis 100.000 Mahlzeiten zu sich und widmet dieser Tätigkeit 13 bis 17 Jahre seines Lebens." Dazu kommen "die Beschaffung von Nahrungsmitteln, [...] das Lesen von Kochbüchern und Ernährungsratgebern, das Anschauen von... Kochsendungen im Fernsehen, die Vorbereitung von festlichen Essen zu besonderen Anlässen und das Kochen und Backen selbst."

Karin A. Lucas, (2009) Die Formate des Essens - Nahrungszubereitung als kultureller Akt. Das Essen der Welt in 15 Formaten.

Montag, November 09, 2009

Der Tod zwischen Natürlichkeit und Artifizialität

Auf der Suche nach Analysen zu "Natürlichkeit" und "Künstlichkeit" bin ich auf den Text - paradoxe Einheit! - "Artifizielle Natürlichkeit" von Matthias Hoffmann gestoßen.

Thematisch dreht der Text sich um Hospize und den an diesen Orten sich vollziehenden Tod. Der Tod interessiert wohl alle Hahn-Schüler (Hoffmann, ebenso wie mich) besonders, aber zur Zeit steht für mich die Differenz natürlich/künstlich und die Art der theoretischen Analyse im Vordergrund. Da ist Hoffmann insofern interessant, als er nämlich aufdeckt wie sich die Forderung, die Hospizsituation "so natürlich wie möglich" zu gestalten, in ihr genaues Gegenteil verkehrt, und gar nicht anders kann "wie hochgradig artifiziell" (552) zu werden.

"Natürlich", so wird der familiäre Sterbeprozess attributiert, der orthogonal zum Sterbeprozess im Hospiz steht. Während in der Familie jeder Mensch, und hier spezielle jeder Sterbende, in ein enges und diffuses Netz wechselseitig verknüpfter Relevanzen inkludiert ist, interessiert im Hospiz nur seine Krankheit, seine Funktion als Patient. Daran ändert auch die Forderung nichts, den Patienten in seiner (diffusen) Ganzheit zu berücksichtigen. Denn im Gegensatz zur Familie, wo alles relevante eines Gruppenmitglieds auch für alle anderen relevant ist, ist im "neuen" Hospiz nur alles was für den Patienten relevant ist relevant! "Die symmetrische Relevanzstruktur der Familie verschiebt sich hier zu einer vollständigen Asymmetrie." (552).

Theoretisch greift Hoffman auf Goffmann's Theorie der Differenz von Vorder- und Hinterbühne zurück. Er beschreibt, wie der "natürliche" Raum auf der Hinterbühne initiiert und auf der Vorderbühne inszeniert wird - Natürlichkeit als "kunstfertige Herstellung" (552). Zu sehr bedarf der funktionierende Pflegealltag, gerade der hochgradig Patientenbedürfnisse focussierende, strukturelle Regularien auf verschiedenen Ebenen (bspw. der Verwaltung).

So kommt er im Fazit, zu der gar nicht abwertend gemeinten Feststellung: "Ein natürliches, ohne weitere Voraussetzungen und Randbedingungen praktizierters 'Da-Sein' wird aus guten Gründen in der Hospizarbeit nirgends praktiziert. 'Natürlichkeit' ist der angestrebte Modus im Verhältnis zu den Kranken und kann doch immer nur eine artifizielle Natürlichkeit sein." (569).

Donnerstag, November 05, 2009

Kausalität... oder "Kommunikation"

Heute einen interessanten Gedankenaustausch - irres Wort, wenn man mal drüber nachdenkt - zum Thema Kausalität gehabt.

Wie weit können wir die Verkettung von Ereignissen kausaltheoretisch rekonstruieren? Inwiefern dürfen wir bei Prognosen Kausalannahmen formulieren? Wieso tappen wir sooft in die Falle, aus Korrelationen Kausalaussagen abzuleiten?

In meiner Arbeit versuche ich wo immer es geht, von Kausalaussagen abzusehen und eine Perspektive von Kommunikationsverhältnisse einzuführen. Sicherlich ein Resultat der Luhmann- und Baecker-Lektüre, letzterer setzt "Kommunikation" ja gerade in Opposition zu "Kausalität" (Form und Formen der Kommunikation: 8). Aber nochmal: Was gewinnen wir damit?

Wir können zunächst einmal von Fragen absehen, wie etwas "ausgetauscht" wird, wie etwas "von einem Phänomen in ein anderes gelangt", weil wir von "direktem Einfluss" auf "gegenseitige Irritation" switchen. Wolfgang Jonas spricht, mit Bezug auf Baecker, von unbestimmter Kausalität, die impliziert, dass es in der Umwelt von Kausalketten Wirkursachen gibt, die Effekte im System auslösen, obwohl sie vom System nicht bestimmt werden können (Mind the gap! - Über Wissen und Nichtwissen im Design: 58)
Desweiteren ist es dann auch möglich, die Interdependenzketten rückwärts (oder vorwärts, abhängig freilich von der Richtung aus der man kommt) zu verfolgen und zu erkennen, dass es nicht ein "unbedingtes Bedingen" bei dem Ablauf der Ereignisse gab, sondern eine Reihe "an Zufall grenzende rUnwahrscheinlichkeiten des Eintritts von Ereignissen, die als Selektion aus einer Vielzahl von Möglichkeiten realisiert wurden". Damit wird zumindest die Monolinerarität von Kausalität aufgelöst.
Als drittes kann man sich die Komplexität von Phänomenen eher realisieren, wenn man auch Vorgänge wie Zirkularität, Selbstreferentialität oder - in fuzzylogischen Theorien stark thematisierten - Unschärfen in die Analysen miteinbezieht.

Nichts desto trotz ist die Suche nach Kausalitäten und die Formulierung von Kausalitäten stellenweise durchaus praktikabel. Ein guter Hinweis war der Verweis auf die Konstruktion von Kausalität in den Rechtswissenschaften, besonders im Strafrecht. Es käme wohl nie zu Verurteilungen, würde der Beobachter nicht einen Kausalzusammenhang konstruieren, warum was zum Delikt geführt hat. Allerdings ist die Zentralität eines bestimmten Beobachters mit zahlreichen blinden Flecken hier unübersehbar - und auch immer wieder Thema ("die böse Gesellschaft", "die Gene", "der Alkohol"....).
Allerdings sollte man sich vor Augen führen, dass mit zunehmender Komplexität der Analyse auch die analysierten Phänomene so komplex werden, dass man nur noch von "unverbundenen Inseln von Kausalität" sprechen kann (Mind the gap! - Über Wissen und Nichtwissen im Design: 58) .

"Expertise im Design besteht [...] in der Kunst des Durchwurstelns"

Durch einen Hinweis meiner Chefin bin ich auf Wolfgang Jonas, Professor für Systemdesign an Universität Kassel, aufmerksam geworden.

Da meine Arbeit u.a. von der Frage "Wie funktioniert Kultur?" und "Als was funktioniert Innovation?" umtreibt, bin ich von der Perspektive des "Design" (Entwerfen), wie sie Jonas auch unter systemischen Gesichtspunkten entwickelt, direkt fasziniert gewesen (als Quelle berufe ich mich hier auf "Mind the gap! – Über Wissen und Nichtwissen im Design", ein Text der Online verfügbar ist).

Mich interessiert dabei, wie wir "Natur" designen, um zumindest kurzzeitig eine sumpfige "Grundlage", eine irgendwie geartet Passung zur Verfügung zu haben, die beim Einstieg in ein/e Feld/Diskurs/Kommunikation/Muster/Gesellschaft als Anschlussstelle dient. Dass es sich dabei immer nur um eine "transitorische Natur" (56) handeln kann ist nicht direkt offensichtlich, aber einleuchtend - zu kontraproduktiv sind "einschläfernde Wahrheiten und fest gefügte Standards" (67), zu ersichtlich der "Erfolg von Designeingriffen" (57), gleichgültig wie groß "das Unwissen des Designs über sein Unwissen" ist (58).

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Mittwoch, November 04, 2009

Claude Levi-Strauss verstorben

*28.11.1908 +1.11.2009

Mit Levi-Strauss ist ein großer Autor und Wissenschaftler der strukturalistischen Kulturforschung tot. Mit seiner Mythenforschung und seiner Suche nach symbolischen Systemen als Ursprung der Gesellschaft hat er - unter Anwendung der vergleichenden Analyse - viele Erkenntnisse und Anstösse erzeugt.

Ein Nachruf in der FAZ vom 4.November 2009.