Dienstag, Oktober 19, 2010

Armin Nassehi über Biologie und Biologismus

Der Münchener Soziologe hat heute einen bemerkenswerten Beitrag auf faz.net zur Differenz von Biologie und Biologismus veröffentlicht. Im Anschluss an die Argumente Theo Sarrazins stellt er deren argumentative Naturalisierungen von sozialem Handleln bloß: 

"Die Frage ist, warum die Naturalisierung des Anderen, Fremden so attraktiv erscheint. Es ist offensichtlich der Versuch, einer verunsicherten Mittelschicht einfache Erklärungen anzubieten. Eine Welt, in der alles auch anders sein könnte, in der Perspektivendifferenzen und Pluralität unvermeidliche Erfahrungen sind, suggeriert die Natur Eindeutigkeit und Gewissheit.

Der Clou ist dabei, dass er es nicht nur bei genuin sozialwissenschaftlichen Beweisführungen belässt, sondern statt dessen auch Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften, eben der Biologie, in Stellung bringt:

"Kultur wird biologisch dadurch fundiert, dass die menschliche Intelligenz in einer Umwelt aufgeschlossen werden muss, die den „Schalter“ umlegen, Potentiale zu entwickeln und zu entfalten. Ein ganz anderes Verständnis von Natur lässt sich daraus ableiten - nicht im Sinne der alten Vorstellung eines Reichs der Determination, sondern des Aufbaus und der Selbstorganisation von Strukturen und Prozessen."

Das ist fraglos systemtheoretisch inspieriert - wie sonst bei Nassehi ;) - und er macht die Debatte damit auf etwas aufmerksam, was für die Systemtheorie erkenntnistheoretisch auch schon fundamental war/ist: Er bezeichnet (/entdeckt für sie) die Umwelt! 

Während die Argumente im Anschluss an Sarrazin glauben, Systeme vollzögen ihre Autopoiesis, ihre Selbstorganisation, ihren Strukturaufbau scheinbar genetisch autark, wird bei Nassehi die Komplexität der Welt noch einmal deutlich gemacht: Systeme existieren immer in einer Umwelt und nur in dieser können sie angepasst und für sich selbst Strukturen aufbauen. Hier geht es um Konditionierung, während die Sarrazin-Argumentation Determination wünscht, diese nicht findet und sich dann in den genetischen Solipsismus flüchtet.

Montag, August 23, 2010

Sprache verstehen

Bei meiner, leider immer noch sehr zäh voranschreitenden Proust-Lektüre, bin ich auf eine (eine von vielen) bemerkenswerte Stelle gestoßen. Sie befasst sich damit, dass ein Ehepaar erkennt, dass ein Freund von ihnen offensichtlich den symbolischen Code ihrer Kultursprache nicht beherrscht. Dass heißt: er spricht und versteht zwar französich und weiß sich wohl auch gewählt auszudrücken, er begreift aber die kleinen Sprachspiele nicht, die in der Kultursprache seines von ihm frequentierten sozialen Netzwerks angelegt sind.

In diesem speziellen Fall versteht der Angesprochene genau das, was man ihm sagt - obwohl genau das Gegenteil gemeint ist, von dem was gesagt wird. Dies wird übrigens ohne jegliche Täuschungsabsicht so gesagt wie es gesagt wird. Statt dessen transportiert diese Form der Kommunikation eine weitere Botschaft (in diesem Fall "Bescheidenheit"), die man nicht mehr kommunzieren kann, wenn man sagt, was tatsächlich der Fall ist.

"Weißt Du," hatte Madame Verdurin zu ihrem Gatten gesagt, "ich glaube, wir machen einen Fehler, wenn wir dem Doktor gegenüber aus Bescheidenheit herabsetzen, was wir ihm bieten. Er ist ein Gelehrter, der außerhalb des praktischen Lebens steht. Er kennt den Wert der Dinge nicht und glaubt in dieser Hinsicht, war ihm darüber erzählen."

Donnerstag, August 19, 2010

Recherche: japanische Ernährungskultur

Für ein Essay, das zu schreiben ich mich entschieden habe, möchte ich etwas über japanische Esskultur recherchieren und habe gestern dafür mit dem Lesen von Harald Lemkes Weisheit des Essens begonnen.

Harald Lemke verfolgt in seinen Arbeiten die Entwicklung einer gastrosophischen Theorie mit  einer starken ethischen Komponente. Es finden sich also im Text auch viele moralische Begründungen  für moralische Urteile - darauf muss man sich einstellen bei der Lektüre.

Dass Buch startet von einem beachtenswerten Ausgangspunkt: Michel Foucault's Auseinandersetzung mit dem Zen. Es wird der Frage nachgespürt, ob das Zen in der traditionellen japanischen Teezeremonie für ein Zen des Essens taugt - und das tut es leider nicht, da dort eher das Nicht-Essen als das Essen im Vordergrund steht. 

Dies nur als eine Anekdote vom Anfang des Buchs, das nichts für die postmodernen "Sinnsüchtigen" (19) ist die einen "Fast Food Buddhismus" (20) suchen. Statt dessen aufklärerische und geistvolle Wissenschaft der Esskultur mit vielen philosophischen, historischen und ethnologischen Beschreibungs-, Erklärungs- und auch (!) Bewertungssträngen.

Über das spezifische Erkenntnisinteresse gerade vielleicht auch deswegen generell lesenswert, weil Japan offenbar eine traditionelle und prächtige Hybridkultur darstellt:

"Der wahre Japanismus ist ein universeller und interkultureller Elektizismus." (30)

Montag, August 02, 2010

Spiegelungsverhältnis

Schon wieder von der Kultur-Seite der Medaille auf der Suche nach der anderen Seite, der ausgeklammerten, rückseitigen (kommt freilich auf die Perspektive an) Natur. Dabei findet man "natürlich" nichts über die Natur raus, sondern immer nur noch mehr Kultur. Die reinste Escher-Treppe...

"An die Stelle von Naturannahmen, die bei aller Dekomposition immer noch halten konnten, was sie zu erkennen gaben, tritt die Paradoxie der Unwahrscheinlichkeit des Wahrscheinlichen." (331)

Dienstag, Juli 27, 2010

Semiotischer Sommerabend

Das Seminar ist vorbei und es war diesmal wirklich ein sehr schöner und spannender Prozess.Vor allem weil es überhaupt nicht auf eine Gleichschaltung der Beiträge und Ideen hinauslief. Stattdessen war es auch am Ende noch eine fruchtbare Kontroverse, die aber ihr Vokabular und ihre Begrifflichkeiten stärker reflektierte und einen aufgeworfenen Diskussionspunkt länger gezielt umkreiste, bevor irgendeine informative Störung sich als attraktivere Abbiegung präsentierte. 

Jetzt heißt es einen Buchbeitrag unter dem Topic "Emotionen und Essen" aus kultursoziologischer Sicht zu verfassen. Das macht Spaß, bringt jedoch, wie Kunst, viel Arbeit mit sich. Immerhin mal wieder ein guter Grund rhizomatisch zu lesen. Ab heute in dem nicht dürren Werk "Verstehen und Gefühle - Entwurf einer leiborientierten Kommunikationstheorie" von Nicole M. Wilk, das mir aber auf Anhieb sympathisch erscheint - auch wenn es ohne systemtheoretischen Anleihen auskommt. Nur an das semiologische Fachjargon muss ich mich erst noch gewöhnen. Dessenungeachtet macht die komplexe Sprache das Lesen - nein, ganz bestimmt nicht einfach!, aber - spannend!

Donnerstag, Juni 17, 2010

Geschmackskonstruktivismus

Heute wieder zum Klassiker der konstruktivistischen Gustatorikforschung gegriffen: Zur sozialen Konstruktion von Geschmackswahrnehmung, von Michael Borg-Laufes und Lothar Duda (1991).

War dann auch Thema im Seminar und führte zu einer sehr heftigen, aber auch ergiebigen Diskussion über radikalen Konstruktivismus und die Distinktion von Sinnesnuancen.

Trotzdem wieder einmal sehr überraschend, wie sehr an die Realität des Alltäglichen und an die eigene Orientierungsfähigkeit in einer komplexen Welt geglaubt wird.

Man könnte fast meinen, jeder müsste eigentlich wissen was zu tun ist - nur keiner weiß, wie er es dem anderen beibringen kann ;)

Mittwoch, Juni 16, 2010

Es geht um die Wurst

Für einen Vortrag über "Fleischkonsum, Ernährung und Lernfähigkeit" gilt es den strukturellen Veränderungen des Fleischkonsums nachzuforschen und im historischen Zeitverlauf zu betrachten. Dabei kann ich glücklicherweise auf einen Klassiker zurückgreifen:


Damals, 1986, konnte der Artikel sich dem Fleischverzehr noch völlig unkritisch  nähern und aus moderner ökologischer Perspektive geradezu euphorisch mit den Worten enden:

"Insgesamt verläuft der Anstieg des Fleischverbrauches in Deutschland erstaunlich parallel mit der Idustrialisierung und kann als hervorragender Index für den wachsenden Lebensstandard angesehen werden." (73)

Die guten alten Zeiten... ;)

Donnerstag, Juni 03, 2010

Geschmacksfrage - in eigener Sache

Geschmacksfrage - Zur sozialen Konstruktion des Kulinarischen, Kadmos Verlag, 144Seiten, 19,90Euro.


"Dass sich der menschliche Organismus ernähren muss, gilt als anthropologische Universalie. Unbestritten ist aber auch, dass die Art und Weise dieser Ernährung - das wie und womit er sich ernährt - von kulturellen Faktoren abhängig ist.

Das vorliegende Buch entwickelt zunächst aus den Begriffsapparaten der Systemtheorie Niklas Luhmanns, der Kommunikationstheorie Dirk Baeckers und der Parasit-Joker-Theorie Michel Serres eine Kommunikationstheorie moderner Kulinaristik. Während im zweiten Teil des Buches der von Jürgen Dollase in die öffentliche Debatte eingeführte Begriff der Kulinarischen Intelligenz auf seine soziologische Erklärungsreichweite hin überprüft wird, beschäftigt sich der dritte Teil mit der Evolution und Ausdifferenzierung spezifisch kulinarischer Phänomene wie Koch und Esser, verschiedenen Küchenstilen (Haute Cuisine, Nouvelle Cuisine, Fast Food und Slow Food) sowie dem Restaurant als kulinarischer Institution. Im vierten und letzten Teil schließlich werden von den professionellen Berufsgourmets Jürgen Dollase und Wolfram Siebeck in der FAZ bzw. der ZEIT veröffentlichte Zeitungskolumnen in Bezug auf ausgewählte systemtheoretische Variablen, wie Ordnung und strukturelle Komplexität, analysiert. Dabei wird der Prozess der Erzeugung eines mehrdimensionalen Geschmacksbildes rekonstruiert und mit vielen - appetitanregenden - Zitaten illustriert." 

Donnerstag, Februar 18, 2010

Rustemeyer - Diagramme

Endlich hat die Fernleihe das aktuelle Buch von Dirk Rustemeyer (Uni-Trier/Uni-Witten-Herdecke) herbeigebracht: Diagramme.

Ich muss schmunzeln, dass er keinen Literaturhinweis auf Luhmann drin hat, die Luhmannlektüre aber mehr als einmal durchblitzt. Aber vielleicht ist dieses weitesgehende Umschiffen  Luhmannschen Fahrwassers auch der Grund, warum dieses Buch so spannend und anregend ist. Nicht, dass ich auf die Luhmannschen Strudel verzichten möchte, aber Diagramme liest sich eben wie eine Karte, die primär andere Gewässer zu  (re)konstruieren und abzubilden sucht: Cassierer, Heidegger, Adorno, Latour...

Und statt "Formen" und "Kalkülen" werden hier "Diagramme" bzw. "digrammatische Phänomene" angewandt - jetzt muss ich nur noch die Differenzen klar kriegen ;) Im Moment sind es auf jeden Fall die Vielzahl moderner Kunstprojekte, die in dem Buch beschrieben werden, die mich am meisten fesseln...



Dirk Rustemeyer: Diagramme, 2009, Velbrück, ISBN 3-938808-62-4