Montag, November 26, 2012

CfP AG Kulinarische Ethnologie

Call for Papers

Kulinarisches Wissen und globales Ernährungsverhalten

Workshop der AG Kulinarische Ethnologie auf der DGV-Tagung 2013, 2.-5. Oktober an der Universität Mainz


Luciano Ventrone | Dilemma - 2009
Das Bedürfnis zu essen und zu trinken ist eine anthropologische Universalie, an die sich eine kulturabhängige Gestaltungskontingenz von Ernährungsweisen sowie eine Diversität von Wissensbeständen anschließt. Diese Gestaltungs-vielfalt menschlicher Ernährung hat die Ethnologie bereits beschrieben. Auch in einer globalisierten Welt ist keineswegs eine durchgehende Standardisierung des Ernährungsverhaltens zu beobachten. Zudem gibt es eine Reihe von beruflichen Professionalisierungen, Ernährungsexperten und kulinarisch/diätetisch interessierten Laien, die sich verschiedentlich mit dem Essen auseinandersetzen und ein rhizomatisches, heterarchisches Netz kulinarischen Wissens um die Welt spannen. Lokale Wissensbestände sind eine Ressource, die vor dem Hintergrund einer wachsenden Weltbevölkerung sowie alter und neuer Muster sozialer Ungleichheit und ökonomischer Verteilungskämpfe für die Bewältigung des Problems der globalen Ernährungssicherheit genutzt werden kann.

Der Workshop wird ausloten, ob ethnologische Forschungen vor dem Hintergrund der globalen Diversität des Essens einen gesellschaftsrelevanten und politischen Beitrag zu einem nachhaltigen Ernährungshandeln liefern können, ohne dabei in paternalistische Argumentationsmuster zu verfallen. Zudem stellt sich die Frage, inwieweit Initiativen, das Thema „Essen“ multidisziplinär – z.T. durch Dialog mit nicht-akademischen Professionen wie Köchen, Gastronomen, Lebensmittelproduzenten - zu behandeln, Möglichkeiten für eine partizipative Ethnologie bieten, die durch die Privilegierung einer größeren Pluralität von Wissensbeständen und Praktiken ihrerseits an Schärfe gewinnen könnte.

Hierzu werden Abstracts mit max. 200 Wörtern sowie eine Kurzversion von nicht mehr als 30 Wörtern bis zum 15. Februar 2013 an die Workshop-LeiterInnen erbeten. Bitte beachten Sie, dass pro Person nur ein Vortrag auf der gesamten Tagung möglich ist.

Bettina Mann, Dipl. Soz.
Forschungskoordinatorin/Research Coordinator
Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung
Max Planck Institute for Social Anthropology
Advokatenweg 36, D-06114 Halle/Saale
Postfach 11 03 51, D-06017 Halle/Saale
Telefon: +49 (0) 345-2927-501
Telefax: +49 (0) 345-2927-202

E-Mail: mann[at]eth.mpg.de
www.eth.mpg.de

Dr. Anita von Poser
Freie Universität Berlin
Institut für Ethnologie
Landoltweg 9-11
14195 Berlin
Tel.: ++49(0)30 838 50766
Fax: ++49(0)30 838 52382
E-Mail:
anita.poser[at]fu-berlin.de

Dipl.-Soz. Daniel Kofahl
Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur (APEK)
Gelsterstr. 8
37213 Witzenhausen
Tel: 0049(0)5542-969049-0
E-Mail: Kofahl[at]APEK-Consult.de
www.APEK-Consult.de

Dienstag, August 07, 2012

Runter vom Thron, auf in die Welt!

In der aktuellen Ausgabe der Ernährungs-Umschau findet sich der von Angelika Ploeger und mir verfasste Artikel Deutsche Ernährungskultur - Trends und Veränderungen. In diesem Artikel fordern wir in gewisser Weise einen Paradigmenwechseln in der Ernährungswissenschaft. Der inzwischen klassisch gewordene naturwissenschaftlich-medizinische Experte, der mit der Autorität seiner Profession der Gesellschaft und den Klienten (den "Essenden") quasi "von oben herab" (oder "von hinter dem Schreibtisch") sagt, was zu essen ist und was nicht, hat sich, so eine der Kernthesen des Artikels, überlebt.

Die Erkenntnis - und die wissenschaftliche Anerkennung! - von Hyperkomplexität in der Ernährungskultur (als der "Art und Weise wie sich Leute in einer Gesellschaft ernähren und wie andere sie dabei beobachten") führt dazu, dass man im Perspektiven- und Aussagenpluralismus immer schwerer zwischen "wahren" und "falschen" Beschreibungen unterscheiden kann (dies gelingt seriös nur noch bei sehr reduktionischen Element-Relation-Konstellationen). Denn alle Beobachtungen und Beschreibungen sind gekennzeichnet durch (1) die Positionsabhängigkeit des Beobachters und (2) durch die notwendige Reduktion von Komplexität. Der erste Punkt führt dazu, dass Erkenntnisse und Beschreibungen zwischen bspw. einem Natur- und einem Sozialwissenschaftler, einem Mediziner und einem Physiker, einem Soziologen und einem Semiotiker, zwischen Experte und Laie, Berater und Klient etc. immer schon deshalb unterschiedlich sind, weil andere Blickwinkel, andere Kategorien und andere Zielvorstellungen zum Zuge kommen. Der zweite Punkt schließt endlich mit der Illusion von "Ganzheitlichkeit" ab. Die Idee der "Ganzheitlichkeit" suggeriert, man könne, wenn man "nur nicht reduktionistisch" ist, "quasi alles" in den Blick bekommen. So kurz wie die reduktionistische Wissenschaft, die sich ausschließlich auf isolierte Elemente konzentriert, auch greift, so unrealistisch ist die Idee, ein (Ab-)Bild vom Ganzen zu erstellen. Zunächst müsste das Bild eine Landkarte im Maßstab 1:1 sein, dann würde der Faktor Zeit das Erstellen der Landkarte zu einem unendlichen Prozess machen, schließlich müsste man akzeptieren, dass die Landkarte nie das Territorium ist und man auch nur eine von zahllos nebeneinander existierenden Landkarten entwirft. Und wer beobachtet den Beobachter beim beobachten?

So kann Ernährungskultur (nun verstanden als "Wissenschaft vom Essen und Trinken") in der hochmodernen Gesellschaft vor allem dadurch glänzen, dass sie Alternativen aufzeigt, verschiedene Positionen mit einander in Verbindung bringt, Maßstäbe zur Gewischtung von Faktenwissen bereitstellt, ohne diese zu verabsolutieren und eine Form der produktiven Unruhe zu stiften, wo Akteure Situationen als festgefahren erleben. Gute Experten wissen zudem im Gegensatz zu Laien - die (implizit) oft mehr und genauer Bescheid wissen - gerade auch um das "Nicht-Wissen" jedes Wissens. Sie bedenken öfter die Kontingenzspielräume, oder "ahnen es schneller", wann man mit dem traditionellen, konservativen Ernährungslatein am Ende ist und sich auf den Weg machen muss, neue Wege zu beschreiten.
 

Kofahl, Daniel/ Ploeger, Angelika (2012):
Deutsche Ernährungskultur - Trends und Veränderungen.
Perspektiven einer modernen Kulturwissenschaft.
 In: Ernährungs-Umschau, 7/12. S. 386-391.

 

Sonntag, Juli 08, 2012

Ad-Hoc-Gruppe auf dem Soziologiekongress

„Moderne Ernährung zwischen Vielfalt, Komplexität und Partikularismus“

Ad-hoc-Gruppe auf dem 36. Kongress der DGS, Bochum/Dortmund (1.-5. Oktober 2012)

Organisation: Daniel Kofahl und Jana Rückert-John
Zeit: Di. 14.15 - 17.00 Uhr

Jana Rückert-John (Berlin): Inhaltliche Einführung ins Thema

Daniel Kofahl (Kassel): Zur sozialen Komplexität moderner Ernährung

Anna Henkel (Bochum): Integrierte Produkte. Von traditionellen Ernährungsregeln zu produktorientierten Ernährungsformen

Judith Ehlert (Bonn): Ernährung und Körper – eine biopolitische Perspektive

Mica Wirtz (Hamburg): Der Kampf um die gesunde Ernährung – Die Nationale Verzehrstudie II und ihre mediale Verhandlung

Jörg Albrecht (Leipzig): „Vom ‚Kohlrabiapostel‘ zum ‚Bionade-Biedermeier‘: Alternative Ernährung zwischen religiöser Marginalität und kulturellem Mainstream“

Lotte Rose, Rhea Seehaus, Katharina Schneider (Frankfurt am Main): „Romanescoröschen an Tomatengemüseleckersoße“. Essensvielfalt zwischen Zumutung und Bereicherung – Wie Kinder sich beim Schulessen fremden Speisen nähern (sollen)


Die Abstracts unter: www.dgs2012.de/programm/programm-uebersicht/02-okt-2012/1415-bis-1700-uhr

Mittwoch, April 18, 2012

CfP „Moderne Ernährung zwischen Vielfalt, Komplexität und Partikularismus“

Call for Papers

Moderne Ernährung zwischen Vielfalt, Komplexität und Partikularismus
 

Die gegenwärtige Gesellschaft ist durch kulturelle Vielfalt gekennzeichnet. Dies trifft auch auf den Bereich der Ernährung zu. Ernährung wird durch die Beseitigung von Hunger nicht schon unproblematisch; seit der Globalisierung erscheint sie hochgradig kontingent als ein Feld von Entscheidungsprozessen, bei denen gegebenenfalls „die günstigste Wahl verfehlt werden kann“ (Luhmann 1987). Dies schlägt sich in dem paradoxen Zustand nieder, dass bei zunehmenden Informationsmöglichkeiten sich dennoch immer mehr Unsicherheiten in Bezug auf die „richtige“ Form der Ernährung ausbreiten. Miteinander konkurrierende Ernährungsstile und widersprüchliche Ernährungsrichtlinien sorgen dafür, dass sich die Binnenkomplexität des Ernährungsdiskurses zwischen genussorientierter Vielfalt undbedrohlicher Überforderung durch Komplexität entfaltet.

Das Ernährungshandeln gerät dabei in den Fokus diverser sozialer Akteure aus Medizin, Ökonomie, Politik und Recht, aber auch Religion und Kunst. Zwischen „Eat Art“ und Halal, zwischen Öko-Lebensmitteln und Novel-Food wird nach Distinktionsmerkmalen einerseits, aber auch nach gegenseitigen Anschlussmöglichkeiten andererseits gesucht.

 Ernährung ist aber nicht nur ein soziales Phänomen auf Mikro- oder Mesoebene. In der Debatte werden heute eine Vielzahl von Folgeproblemen für die globale Gesellschaft gesehen, die sich aus einer unreflektierten Ernährungsweise ergeben können, wie etwa die volkswirtschaftliche Bedeutung von Ernährungsstörungen oder externalisierte, ökologische Kosten bei der Lebensmittelproduktion. Gleichzeitig wird immer wieder versucht, die Vielfalt der modernen Ernährung zu reduzieren. Dafür werden imperative Aussagen über vermeintlich richtige, anständige und korrekte Ernährungsformen mit universellem Gültigkeitsanspruch formuliert, deren Negativfolie als zügelloser Ernährungspartikularismus erscheint. Doch hat dies einen paradoxen Erfolg: Durch die Postulierung einer unüberschaubaren Vielzahl von Ernährungsstilen wächst die Komplexität der Ernährung mit jeder neuen (Re)Formulierung weiter an.

Die komplexe Vielfalt der Ernährung, die sich auch in zahllosen Publikationen in allen Kommunikationsmedien (wie Printmedien, Fernsehen, Internet, Apps) kommunikativ wiederfindet, zeigt sich auf differenzierten Ebenen, die es zu diskutieren gilt. 

Die Diskussion im Rahmen der Ad-hoc-Gruppe, die sich im Schwerpunkt ernährungssoziologisch verortet, soll sich vor dem skizzierten Hintergrund mit folgenden Fragen befassen:

- Welches Angebotsspektrum an Lebensmitteln wird von Individuen oder sozialen Gruppen erwartet bzw. welche und wie viele Informationen erwarten Konsumenten zu von ihnen präferierten Lebensmitteln? Wie verfährt die Gesellschaft mit der paradoxen Erwartungshaltung, die komplexe Vielfalt an verfügbaren Informationen zu reduzieren und gleichzeitig durch das Bereitstellen von „mehr“ oder nochmals „anderen“ Informationen die Komplexität der Ernährung innerhalb der Gesellschaft weiter zu steigern?

- Wer besitzt hegemoniale Deutungshoheiten bzw. wer beteiligt sich an diskursiven Kämpfen um die Deutungshoheit in Bezug auf die Fragen, was eine „gute“ (respektive „schlechte“) oder „richtige“ (respektive „falsche“ Ernährung) ist bzw. wie eine solche realisiert werden soll?

- Wie vermag sich die Gesellschaft auf die Vielfalt und Komplexität der Ernährung einzustellen und welche Perspektiven hält die Soziologie für die Beobachtung der Ernährung bereit?

Hierzu werden Abstracts von 1-2 Seiten bis zum 6. Mai 2012 an die Organisatoren der Ad hoc Gruppe erbeten.
 
Organisation
 
Dipl.-Soz. Daniel Kofahl
Universität Kassel
FG Ökologische Lebensmittelqualität und Ernährungskultur
Nordbahnhofstr. 1a
37213 Witzenhausen
Tel.: 05542 981717
Kofahl@uni-kassel.de
 
Dr. Jana Rückert-John
Zentrum Technik und Gesellschaft (ZTG) der TU Berlin
Bereich Landnutzung und Konsummuster
Hardenbergstraße 16-18
10623 Berlin
Tel.: 030 314-24855
rueckert-john@ztg.tu-berlin.de

Montag, April 02, 2012

Knallbunte Kulinaristik

Heute Morgen ist mir "LEON - Natürlich Fast Food" von Henry Dembleby & John Vincent ins Postfach geflattert.

Mein erster Eindruck nachdem ich es aufgeschlagen habe war: Das ist bunt! Das grafische (!) Design ist untypisch für ein Kochbuch, denn es ist chaotisch, mit vielen verschiedenen Schriftypen und sehr unordentlich. Damit lässt das Buch erst einmal keine Assoziationen mit der gängigen Variante der Fast-Food-Gastronomie aufkommen, in der es vielleicht noch bunt sein darf (obwohl es nicht selten nur einige wenige knallige Farben oder gleich weiße Fliesen sind, die realer Weise zum Einsatz kommen), aber ansonsten alles sehr strukturiert und genormt wirken muss, damit sich wirklich jeder direkt zurechtfindet. Und auch wenn das Buch immer wieder mit Symbolen aus der popkulturellen Spielart des Fast-Food (also nicht mit der Imbissbuden-Kultur) kokettiert, wie etwa Plastikspielzeug oder Eis am Stiel, sind die Rezeptvorschläge meist weit weg davon was man erwarten darf, wenn man ein Schnellimbissrestaurant betritt. Insgesamt erinnert mich das Buch mehr an Partymenüvorschläge aus Kochbüchern aus den 70er und 80er Jahre, aber dekontextuiert: Man braucht jetzt nicht mehr zwingend "eine Gesellschaft geben" sondern hat Kontingenzspielräume der Gerichte erlannt und sie können jetzt auch  in anderem Rahmen - bei Singles, gestressten Alleinerziehenden oder lustvollen Unkomplizierten - genussvoll schmecken.  Vor allem haben sie ihr zwischenzeitliches Stigmatisierungstal hinter sich.

Die inhaltliche Struktur des Buches ist übrigens ganz klassisch geordnet: Einleitung, Zutaten, Fast Food, Slow Fast Food, Bonus Features (Cocktails, einige (sehr) rudimentäre Ernährungstipps, Index). Der zentrale Wert an dem sich dieses Buch semantisch orientiert ist auf jeden Fall "wohlschmeckend". Wie anschlussfähig dies im individuellen Einzelfall sein mag ist aber fraglos nicht vorherzusagen - und ob die Rezepte alltagspraktikabel sind muss ich erst noch in der Küche ausprobieren.




Freitag, März 30, 2012

Post-Systemtheorie in der nächsten Gesellschaft ?


Ich greife jetzt mal nicht die zentralen Schlussfolgerungen des Textes zur Acess-2-Knowledge-Bewegung oder zur Neubestimmung des Arbeit-Werts auf, sondern werfe noch mal einen Blick auf einige Nebenschauplätze in Daths Argumentation.

Dath führt, ohne den Begriff zu nennen, Überlegungen zur, bei ihm zentral materiell fokussierten, bereits begonnenen nächsten Gesellschaft ein und verweist auf den Text "The case for open computer programs" in nature. In diesem analysieren Ince et al. - etwas arg zeitverzögert, wie ich finde - die hyperkommunikative Computer-Gesellschaft mit ihren Auswirkungen auf die Wissensarbeit:
"„Computational Science“, rechnergestützte Forschung, wie sie in allen exakten, also allen technikrelevanten Disziplinen um sich greift, arbeite [] mehr und mehr mit Codes, die der Kontrolle durch andere Wissenschaftler entzogen sind."
Schon länger wird (siehe die Debatte um die "nächste Gesellschaft") diskutiert, dass es zu einer - im Vergleich mit der vorangegangen Buchdruck-Post-Telefon-Telefax-Televisions-Gesellschaft - neuen emergenten Form des gesellschaftlichen Zusammenhalts kommt. In einer polykontexturalen, hyperkomplexen und mit zahlreichen wild- und querverweisenden Links, die jede Hierarchie jenseits von Organisationen unterlaufen, versinkt die fragile Konstruktion eindeutiger Kausalzusammenhänge endgültig im Nebelmeer. 
"Quantität schlägt in eine neue Qualität um - so, wie man aus zwei Haaren keine Frisur machen kann, aus tausend aber schon. Was sich jetzt abzeichnet, ist die Vereinigung von Theorie, Experiment und Simulation, also von induktiven und deduktiven Verfahren zu etwas, das man vorläufig noch recht blass „Data Exploration“ nennt. Der Ausdruck bezeichnet eine neue soziale Tatsache, die man als Alltagsphänomen von Data-Mining-Programmen wie den populären Suchmaschinen her kennt: Gespeichertes in gigantischen Mengen wird der Manipulation durch Algorithmen so zugänglich wie früher nur die Beobachtung der Manipulation durch Gleichungen."
Was freilich nicht darauf hinausläuft, dass man sich nun von jeglicher Erkenntnis verabschieden müsste. Es entstehen nur neue Konstruktion, die vielleicht aber noch deutlicher - für Beobachter die genauer hinsehen - als undeutliche Konstruktionen erkennbar werden. Kontigente Erfindungen können dabei selbstverständlich zu immer festeren Identitäten kondensieren (bspw. zu einem "Ich" oder zu "einer ,ganzen' ökologischen Umwelt))
"nach der Gesichtserkennung arbeitet die digitale Forensik an Verfahren, unbewusste Emotionen zu identifizieren"
Es kommt die Frage auf, wem man in einer solchen streng-chaotisch-streng-geordneten Welt eigentlich wie welche Verantwortbarkeiten zurechnen kann. An wen bitte, soll die Rechnung adressiert werden? Und in welcher Währung soll bezahlt werden? Muss überhaupt bezahlt werden? Müssen alle alles bezahlen?
"Die Klemme derer, die so etwas [den Fkushima-Unfall und die danach schleppend verlaufende Aufklärung, DK] künftig verhüten wollen, ist die, dass sie kein zeitgemäßes Wort haben für das, was sie sich wünschen: eine Sorte Verantwortlichkeit, die dem erreichten technischen Stand entspricht. Dessen Hauptkennzeichen ist: Nicht nur das, was uns in Gang hält (Energie), sondern auch das, was uns steuert (Information), ist in Apparate gerutscht [] "

Irritierend finde ich aber dann den Ausblick auf das vierte Paradigma:

"Anders als bei klassischen Soziodynamikmodellen bis hin zu Strukturfunktionalismus oder Systemtheorie erlaubt die auf der vierten Stufe der Wissenschaft vollbrachte Synthese von Datensammeln, Datenvergleichen und Datenunterscheiden den völligen Verzicht auf Deterministisches."

Welchen Determinismus gilt es in der modernen Systemtheorie -ex post Luhmann, Baecker, Fuchs, Nassehi, Lehmann - zu überwinden? - ?

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Literatur:

Baecker, D. (2011): Zukunftsfähigkeit. 16 Thesen zur nächsten Gesellschaft
Dath, D. (2012): Teurer Irrtum Gemeinwissen gegen Geheimwisse. In: FAZ, 28.3.2012.

Mittwoch, März 28, 2012

Systemtheoretische Kinder

"Das Kind als Medium der Erziehung" von Niklas Luhmann ist nur ein ganz dünnes Büchlein; aber es hat es in sich und ist voller spitzfindiger Anspielungen - schon lange nicht mehr musste ich so oft bei wissenschaftlicher Lektüre (zustimmend) schmunzeln. 

Es ist fraglos oft auch etwas bitter, schließlich ist die Entzauberung humanistischer Pädagogenromantik immer ein wenig eine Landkarte durch Absurdistan. Aber eine raffinierte Abkühlung muss fraglos kein theoretisches Drama daraus machen. Stattdessen gewinnt man Einsichten in Uneinsichtigkeit und nimmt, sofern vorhanden, die Kinder-(Nicht)-Erziehung selbst etwas leichter. Und wenn dies auf persönlicher Ebene nicht möglich ist, dann doch wenigstens auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, denn dort ist klar: 

"Es wachsen immer neue Kinder nach [und außerdem wird] durch Organisation sichergestellt, daß sie eingeschult werden und pünktlich zum Unterricht erscheinen." (69)

Das relativiert sogar, dass Pädagogen das Medium in dem sie kommunizieren ("das Kind") "tendenziell teleologisch" denken und tatsächlich im individuellen Einzelfall "die Bemühungen um Erziehung irgendwann einmal ihr Ende [finden]" (69).

Dass die Erziehung des Kindes - ob nun traditionell eher auf "Dressur" (60) oder modern auf "frühe Selbstständigkeit im Umgang mit Lektüre" (60) [für die nächste Gesellschaft {Baecker} könnte man vielleicht sagen "im Umgang mit dem Computer"] abzielend - am liebsten weiterhin sozial zuverlässige Trivialmaschinen konstruieren will (50), sollte aber vielleicht zusätzlich zu denken geben, ob hier nicht ein um-denken möglich ist. Eine Reihe trivialer contrafaktischer Stabilisierungen in der Märchenwelt der Erwachsenen könnten wegfallen und mehr Platz für nicht-triviale Träumereien schaffen.



Luhmann, N. (2006): Das Kind als Medium der Erziehung. Frankfurt a. M.

Dienstag, März 27, 2012

Quellenangabe (1)

Unter anderem habe ich heute „Das Gedächtnis der Organisation. Erste Annäherung an ein Forschungsproblem, über eine Fußnote bei Kant“ von Maren Lehmann gelesen. Neben einer Entfaltung paradoxer Implikationen von Natur und Vernunft bei Kant sowie einem beeindruckenden Schlenker über einen Organisationskalkül bei Marx und Lenin, eingepackt zwischen Simmel und Weber, heißt es in dem Text: 
 Soziale Ordnung „impliziert sich selbst, weil sie auf der Unterscheidung von Selbstorganisation und Organisation beruht, einer Unterscheidung, die auf beiden Seiten ihrer selbst wiederholt werden kann, die alle ihre Beobachter in sich selbst einschließt und in der deshalb >Unruhestifter< [..] und >Ordnungshüter< [..] nicht zuverlässig auseinander zu halten sind.“ (3) 

Unruhestifter / Ordnungshüter - das ist ja wohl die binäre Differenz des Tages! Und so intellektuell eingeführt wird man damit einiges "durcheinander bringen" / "auf die Beine stellen" können.

Montag, März 26, 2012

Landwirtschaftliche Produkte als Investitionsobjekte

Am  24.3.2012 bereits in der Printausgabe der FAZ und nun auch Online verfügbar ist ein Interview ("Die Preise für Agrarrohstoffe geraten unter Druck") mit der gefragten Marktanalystin Kona Haque. Sie ist bei der Investmentbank Macquarie verantwortlich für den Bereich Agrarrohstoffe sowie Agrarindustrie und ein gern gesehener Gast in dementsprechenden Formaten bei Bloomberg & Co.

Das Interview ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich landwirtschaftliche Erzeugnisse völlig in ökonomische Parameter transferieren lassen, wenn man sie anstatt unter der Perspektive des Ernährungssystems einfach unter dem Aspekt analysiert, wie sehr es ihnen unter marktwirtschaftlichen Besitzverhältnissen gelingen wird, Zahlungen (oder eben "keine Zahlungen") zu bewirken.

Interessant ist bei diesem Interview vor allem auch der Subtext, also das was gesagt wird wo nichts oder etwas anderes gesagt wird, der Bedeutungshorizont aber bestimmte sinnhafte Schlüsse, wenn auch nicht kausal, nahelegt.

So wird davon gesprochen, dass "die Landwirte [...] hohe Gewinne erzielen [konnten]", gemeint ist aber selbstverständlich nicht "der Landwirt" sondern die Händler landwirtschaftlicher Produkte, eventuell die zentralen Global Player der Agrarindustrie. Die meisten Landwirte - zumal weltweit - sind heutzutage Abhängige von der ihnen übergeordneten globalen Agroindustrie. Sie befinden sich also entweder in direkten Angestelltenverhältnissen oder, wie in vielen europäischen Ländern, in einer Art subventionsabhängigen Scheinselbstständigkeit.

Man kann während des gesamten Interviews sehr gut mit-bemerken, wie Ernteausfälle, überalterte Pflanzen oder hinter den (möglichen) industriellen Standards hinterherhinkende Produktionsformen gar nicht als dramatisch (in Bezug auf das eigentlich drängende Welthungerproblem), sondern als (erfreulicherweise) preistreibend eingestuft werden. Zudem wird der Kapitalmarkt noch einmal darauf hingewiesen, wie die Agrarrohstoffe noch wertvoller werden können: Indem die Konsumgewohnheiten der Verbraucher hin zu einem aufwändigen Lebensstil konditioniert werden, wobei gar nicht so sehr das primäre Bedürfnis (Fleisch; Süßspeisen etc.) die großen Gewinnmargen beschert (obwohl auch die auch dort schon sehr hoch sind, dank der Diskrepanz zwischen Preis und Qualität der Lebensmittel), sondern die Produktion auf der Hinterbühne die eierlegende Vollmilchsau für den Kapitalmarkt ist:
 "Die Weltbevölkerung wächst, der Wohlstand nimmt zu. Das bedeutet, dass viele Menschen ihre Essgewohnheiten verändern. Sie wollen mehr Fleisch, das gilt vor allem für China. Und womit füttert man die Tiere? Mit Getreide. Also werden die Preise zulegen. Die Chinesen wollen nicht zurück zu Reis und Weizen. Auch in Indien ändert sich das Essverhalten, dort sind immer mehr Hühnchenfleisch und Milchprodukte gefragt. Dieser Trend gilt übrigens auch für süße Speisen und Süßwaren, also sind mehr Zucker und Kakao nötig."
Ziel kann es für die Kapitalanleger nicht sein, den allzu destruktiven und bei genauerer Betrachtung nur  suboptimal hedonistischen Ernährungsstil des fortgeschrittenen kapitalistischen Konsums zu reformieren. Stattdessen gilt es für das Kapital den demonstrativ verschwenderischen Konsum mittels "aufklärender" Marketingstrategien weiter zu verbreiten. Es ist schon schwer, hier nicht an den "Verblendungszusammenhang" der kritischen Kulturtheorie zu denken.

Klar ist auch: Es wird damit gerechnet, dass sich das Problem der Ernährung der Weltgesellschaft noch verschärfen wird:
 "Der Großteil des Geldes geht zwar immer noch in die Edelmetalle und den Energiesektor. Doch Agrarrohstoffe werden immer beliebter. Die Zahl der Rohstoff-Fonds nimmt zu. Wenn sie börsengehandelte Indexfonds (Exchange Traded Funds, ETF) kaufen, setzen die Anleger auf steigende Preise."

Nur wenn die Güter knapp werden - ob auf quasi-natürliche (durch steigende Nachfrage durch Bevölkerungswachstum bzw. geänderte Konsumgewohnheiten) oder auf extra-künstliche Weise (durch absichtliche Zurückhaltung, Verdrängung durch expansive Landwirtschaft oder Verödung von Anbauflächen) verknappt - lohnt sich für Anleger mit großem Kapitalvermögen die Investition in Agrarrohstoffe. Für den Hunger ist die leider viel zu hohe Nachfrage verantwortlich - und natürlich das Wetter.

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Das komplette Interview hier:
http://www.faz.net/aktuell/finanzen/devisen-rohstoffe/im-gespraech-kona-haque-macquarie-die-preise-fuer-agrarrohstoffe-geraten-unter-druck-11695373.html

Zum demonstrativen Konsum:
Veblen, T. (2007 [1899]): Die Theorie der feinen Leute: Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen. Frankfurt a. M.

Zum demonstrativen Konsum, zu dessen Genuss dem Konsumenten die Zeit fehlt:
Lindner, S. B. (1969): Harried Leisure Class. Columbia.

Der kritische Agrarbericht 2012: 
Der kritische Agrarbericht. Daten, Berichte, Hintergründe, Positionen zur Agrardebatte. Hamm.

Sonntag, März 25, 2012

Essen und Trinken in der Kunst (1): "Schinkenfinger" (C. L. Attersee)

950.000 Schilling, umgerechnet etwa 69.000 Euro, wurden 1999 bei einer Wiener Kunst Auktionen für die „Schinkenfinger“ C. L. Attersees bezahlt. Es ist aber nur das teuerste und nicht das einzige Bild Attersees, das eine kulinarische Thematik aufgreift. Es gibt zahlreiche andere Werke von ihm (Torte mit Speisekugeln und Speiseblau“ [1967]; „Farbherz mit Spaghetti“ [1967]; „Urpunsch“ [1978]; „Tischwelt“ [1984] etc.) die auf das soziale Totalphänomen des Essens und Trinkens (Marcel Mauss) anspielen. Viele davon muten verstörend an, die „Schinkenfinger“ wirken dennoch besonders grotesk.

Das mag daran liegen, dass das moderne Radikaltabu des Kannibalismus auf diesem Bild in obszön ästhetischer Perspektive persifliert wird. Denn in aller Regel gilt die Menschenfresserei in der Gegenwartsgesellschaft als eine barbarische und damit un-kultivierte Art der Nahrungsaufnahme primitiver Wilder [übrigens ein etwas vorschnelles Zerrbild der vermeintlich Zivilisierten, wie Tannerhill 1982 gezeigt hat]. Auch (hoch-)intelligente Kannibalen wie der fiktionale Hannibal Lecter oder der ganz reale Achim Meiwes heben dieses Bild nicht auf. Sie erschrecken den Zuschauer massenmedialer Formate bloß wie ein bitterböser Schelm, der jemandem hinter einer Tür mit einem lauten „Buh!“ auflauert, aber einen nicht einmal mittelfristig aus dem ausgeleuchteten Allerweltsalltag herauskatapultieren kann. 

Die „Schinkenfinger“ sehen denn auch weder abgerissen noch irgendwie blutig verschmiert aus. Stattdessen sind sie penibel manikürt, sorgfältig hergerichtet und wirken ausgesprochen hygienisch. Morbide Zivilisation à la carte. Der Name des Künstlers prangt oben links in der Ecke wie ein Markenemblem einer angesehenen Fleischfabrikation. Es fehlt nur noch das CMA-Gütesiegel: Die biederste Auszeichnung für „geprüfte Leistung und Qualität“ auf dem Lebensmittelmarkt. 

Die dekorative Darstellung der „Schinkenfinger“ kokettiert damit, auf Reichtum und Schönheit der Welt verweisen zu wollen, nur um gleichzeitig mittels des intendierten visuellen Defekts über das angetäuschte Ziel hinauszuschießen und auf ganz andere, moralisch äußerst bedenkliche Möglichkeiten derselben Welt aufmerksam zu machen: Sadismus kommt nicht zwangsläufig in der Maske des Hässlichen daher, sondern kann durchaus handwerklich perfekt und geschmackvoll herausgeputzt die Bühne betreten – oder vielleicht sogar von einer tadellosen Hausfrau oder einer ausgebildeten Servicefachkraft serviert werden. Bon Appetit. 

Freilich ist dies nicht die einzige Interpretation des Bildes. Es ist genauso möglich, die invalide Erotik dieser verführerisch auf der Strecke bleibenden Damenfinger auch als Scherz aus der Kategorie des schwarzen Humors aufzufassen. Aber dabei wird man es dann nicht einfach stehen lassen können, denn der „Schwarze Humor“ ist mehr als eine Floskel. Dahinter lauert der Surrealismus und der durchschifft das Unerklärliche erst recht ausführlich und umtriebig (Breton 2011 [1979]).


„Schinkenfinger“ von Christian Ludwig Attersee, 1966, Museum der Moderne Salzburg

Attersee (1940 in Bratislava geboren) lebt und arbeitet in Wien, wo er u.a. als Professor der Akademie für angewandte Kunst unterrichtet.


Literatur:

Breton, A. (2011 [1979]): Anthologie des schwarzen Humors. Rogner & Bernhard.

Mauss, M. (1986): Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften. Suhrkamp.

 Tannerhill, R. (1982): Fleisch und Blut. Eine Kulturgeschichte des Kannibalismus. Goldmann.

Freitag, Februar 10, 2012

Links

Daniel Kofahl

http://www.apek-consult.de/team/dr-daniel-kofahl/

Dr. Daniel Kofahl