Freitag, März 30, 2012

Post-Systemtheorie in der nächsten Gesellschaft ?


Ich greife jetzt mal nicht die zentralen Schlussfolgerungen des Textes zur Acess-2-Knowledge-Bewegung oder zur Neubestimmung des Arbeit-Werts auf, sondern werfe noch mal einen Blick auf einige Nebenschauplätze in Daths Argumentation.

Dath führt, ohne den Begriff zu nennen, Überlegungen zur, bei ihm zentral materiell fokussierten, bereits begonnenen nächsten Gesellschaft ein und verweist auf den Text "The case for open computer programs" in nature. In diesem analysieren Ince et al. - etwas arg zeitverzögert, wie ich finde - die hyperkommunikative Computer-Gesellschaft mit ihren Auswirkungen auf die Wissensarbeit:
"„Computational Science“, rechnergestützte Forschung, wie sie in allen exakten, also allen technikrelevanten Disziplinen um sich greift, arbeite [] mehr und mehr mit Codes, die der Kontrolle durch andere Wissenschaftler entzogen sind."
Schon länger wird (siehe die Debatte um die "nächste Gesellschaft") diskutiert, dass es zu einer - im Vergleich mit der vorangegangen Buchdruck-Post-Telefon-Telefax-Televisions-Gesellschaft - neuen emergenten Form des gesellschaftlichen Zusammenhalts kommt. In einer polykontexturalen, hyperkomplexen und mit zahlreichen wild- und querverweisenden Links, die jede Hierarchie jenseits von Organisationen unterlaufen, versinkt die fragile Konstruktion eindeutiger Kausalzusammenhänge endgültig im Nebelmeer. 
"Quantität schlägt in eine neue Qualität um - so, wie man aus zwei Haaren keine Frisur machen kann, aus tausend aber schon. Was sich jetzt abzeichnet, ist die Vereinigung von Theorie, Experiment und Simulation, also von induktiven und deduktiven Verfahren zu etwas, das man vorläufig noch recht blass „Data Exploration“ nennt. Der Ausdruck bezeichnet eine neue soziale Tatsache, die man als Alltagsphänomen von Data-Mining-Programmen wie den populären Suchmaschinen her kennt: Gespeichertes in gigantischen Mengen wird der Manipulation durch Algorithmen so zugänglich wie früher nur die Beobachtung der Manipulation durch Gleichungen."
Was freilich nicht darauf hinausläuft, dass man sich nun von jeglicher Erkenntnis verabschieden müsste. Es entstehen nur neue Konstruktion, die vielleicht aber noch deutlicher - für Beobachter die genauer hinsehen - als undeutliche Konstruktionen erkennbar werden. Kontigente Erfindungen können dabei selbstverständlich zu immer festeren Identitäten kondensieren (bspw. zu einem "Ich" oder zu "einer ,ganzen' ökologischen Umwelt))
"nach der Gesichtserkennung arbeitet die digitale Forensik an Verfahren, unbewusste Emotionen zu identifizieren"
Es kommt die Frage auf, wem man in einer solchen streng-chaotisch-streng-geordneten Welt eigentlich wie welche Verantwortbarkeiten zurechnen kann. An wen bitte, soll die Rechnung adressiert werden? Und in welcher Währung soll bezahlt werden? Muss überhaupt bezahlt werden? Müssen alle alles bezahlen?
"Die Klemme derer, die so etwas [den Fkushima-Unfall und die danach schleppend verlaufende Aufklärung, DK] künftig verhüten wollen, ist die, dass sie kein zeitgemäßes Wort haben für das, was sie sich wünschen: eine Sorte Verantwortlichkeit, die dem erreichten technischen Stand entspricht. Dessen Hauptkennzeichen ist: Nicht nur das, was uns in Gang hält (Energie), sondern auch das, was uns steuert (Information), ist in Apparate gerutscht [] "

Irritierend finde ich aber dann den Ausblick auf das vierte Paradigma:

"Anders als bei klassischen Soziodynamikmodellen bis hin zu Strukturfunktionalismus oder Systemtheorie erlaubt die auf der vierten Stufe der Wissenschaft vollbrachte Synthese von Datensammeln, Datenvergleichen und Datenunterscheiden den völligen Verzicht auf Deterministisches."

Welchen Determinismus gilt es in der modernen Systemtheorie -ex post Luhmann, Baecker, Fuchs, Nassehi, Lehmann - zu überwinden? - ?

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Literatur:

Baecker, D. (2011): Zukunftsfähigkeit. 16 Thesen zur nächsten Gesellschaft
Dath, D. (2012): Teurer Irrtum Gemeinwissen gegen Geheimwisse. In: FAZ, 28.3.2012.

Mittwoch, März 28, 2012

Systemtheoretische Kinder

"Das Kind als Medium der Erziehung" von Niklas Luhmann ist nur ein ganz dünnes Büchlein; aber es hat es in sich und ist voller spitzfindiger Anspielungen - schon lange nicht mehr musste ich so oft bei wissenschaftlicher Lektüre (zustimmend) schmunzeln. 

Es ist fraglos oft auch etwas bitter, schließlich ist die Entzauberung humanistischer Pädagogenromantik immer ein wenig eine Landkarte durch Absurdistan. Aber eine raffinierte Abkühlung muss fraglos kein theoretisches Drama daraus machen. Stattdessen gewinnt man Einsichten in Uneinsichtigkeit und nimmt, sofern vorhanden, die Kinder-(Nicht)-Erziehung selbst etwas leichter. Und wenn dies auf persönlicher Ebene nicht möglich ist, dann doch wenigstens auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, denn dort ist klar: 

"Es wachsen immer neue Kinder nach [und außerdem wird] durch Organisation sichergestellt, daß sie eingeschult werden und pünktlich zum Unterricht erscheinen." (69)

Das relativiert sogar, dass Pädagogen das Medium in dem sie kommunizieren ("das Kind") "tendenziell teleologisch" denken und tatsächlich im individuellen Einzelfall "die Bemühungen um Erziehung irgendwann einmal ihr Ende [finden]" (69).

Dass die Erziehung des Kindes - ob nun traditionell eher auf "Dressur" (60) oder modern auf "frühe Selbstständigkeit im Umgang mit Lektüre" (60) [für die nächste Gesellschaft {Baecker} könnte man vielleicht sagen "im Umgang mit dem Computer"] abzielend - am liebsten weiterhin sozial zuverlässige Trivialmaschinen konstruieren will (50), sollte aber vielleicht zusätzlich zu denken geben, ob hier nicht ein um-denken möglich ist. Eine Reihe trivialer contrafaktischer Stabilisierungen in der Märchenwelt der Erwachsenen könnten wegfallen und mehr Platz für nicht-triviale Träumereien schaffen.



Luhmann, N. (2006): Das Kind als Medium der Erziehung. Frankfurt a. M.

Dienstag, März 27, 2012

Quellenangabe (1)

Unter anderem habe ich heute „Das Gedächtnis der Organisation. Erste Annäherung an ein Forschungsproblem, über eine Fußnote bei Kant“ von Maren Lehmann gelesen. Neben einer Entfaltung paradoxer Implikationen von Natur und Vernunft bei Kant sowie einem beeindruckenden Schlenker über einen Organisationskalkül bei Marx und Lenin, eingepackt zwischen Simmel und Weber, heißt es in dem Text: 
 Soziale Ordnung „impliziert sich selbst, weil sie auf der Unterscheidung von Selbstorganisation und Organisation beruht, einer Unterscheidung, die auf beiden Seiten ihrer selbst wiederholt werden kann, die alle ihre Beobachter in sich selbst einschließt und in der deshalb >Unruhestifter< [..] und >Ordnungshüter< [..] nicht zuverlässig auseinander zu halten sind.“ (3) 

Unruhestifter / Ordnungshüter - das ist ja wohl die binäre Differenz des Tages! Und so intellektuell eingeführt wird man damit einiges "durcheinander bringen" / "auf die Beine stellen" können.

Montag, März 26, 2012

Landwirtschaftliche Produkte als Investitionsobjekte

Am  24.3.2012 bereits in der Printausgabe der FAZ und nun auch Online verfügbar ist ein Interview ("Die Preise für Agrarrohstoffe geraten unter Druck") mit der gefragten Marktanalystin Kona Haque. Sie ist bei der Investmentbank Macquarie verantwortlich für den Bereich Agrarrohstoffe sowie Agrarindustrie und ein gern gesehener Gast in dementsprechenden Formaten bei Bloomberg & Co.

Das Interview ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich landwirtschaftliche Erzeugnisse völlig in ökonomische Parameter transferieren lassen, wenn man sie anstatt unter der Perspektive des Ernährungssystems einfach unter dem Aspekt analysiert, wie sehr es ihnen unter marktwirtschaftlichen Besitzverhältnissen gelingen wird, Zahlungen (oder eben "keine Zahlungen") zu bewirken.

Interessant ist bei diesem Interview vor allem auch der Subtext, also das was gesagt wird wo nichts oder etwas anderes gesagt wird, der Bedeutungshorizont aber bestimmte sinnhafte Schlüsse, wenn auch nicht kausal, nahelegt.

So wird davon gesprochen, dass "die Landwirte [...] hohe Gewinne erzielen [konnten]", gemeint ist aber selbstverständlich nicht "der Landwirt" sondern die Händler landwirtschaftlicher Produkte, eventuell die zentralen Global Player der Agrarindustrie. Die meisten Landwirte - zumal weltweit - sind heutzutage Abhängige von der ihnen übergeordneten globalen Agroindustrie. Sie befinden sich also entweder in direkten Angestelltenverhältnissen oder, wie in vielen europäischen Ländern, in einer Art subventionsabhängigen Scheinselbstständigkeit.

Man kann während des gesamten Interviews sehr gut mit-bemerken, wie Ernteausfälle, überalterte Pflanzen oder hinter den (möglichen) industriellen Standards hinterherhinkende Produktionsformen gar nicht als dramatisch (in Bezug auf das eigentlich drängende Welthungerproblem), sondern als (erfreulicherweise) preistreibend eingestuft werden. Zudem wird der Kapitalmarkt noch einmal darauf hingewiesen, wie die Agrarrohstoffe noch wertvoller werden können: Indem die Konsumgewohnheiten der Verbraucher hin zu einem aufwändigen Lebensstil konditioniert werden, wobei gar nicht so sehr das primäre Bedürfnis (Fleisch; Süßspeisen etc.) die großen Gewinnmargen beschert (obwohl auch die auch dort schon sehr hoch sind, dank der Diskrepanz zwischen Preis und Qualität der Lebensmittel), sondern die Produktion auf der Hinterbühne die eierlegende Vollmilchsau für den Kapitalmarkt ist:
 "Die Weltbevölkerung wächst, der Wohlstand nimmt zu. Das bedeutet, dass viele Menschen ihre Essgewohnheiten verändern. Sie wollen mehr Fleisch, das gilt vor allem für China. Und womit füttert man die Tiere? Mit Getreide. Also werden die Preise zulegen. Die Chinesen wollen nicht zurück zu Reis und Weizen. Auch in Indien ändert sich das Essverhalten, dort sind immer mehr Hühnchenfleisch und Milchprodukte gefragt. Dieser Trend gilt übrigens auch für süße Speisen und Süßwaren, also sind mehr Zucker und Kakao nötig."
Ziel kann es für die Kapitalanleger nicht sein, den allzu destruktiven und bei genauerer Betrachtung nur  suboptimal hedonistischen Ernährungsstil des fortgeschrittenen kapitalistischen Konsums zu reformieren. Stattdessen gilt es für das Kapital den demonstrativ verschwenderischen Konsum mittels "aufklärender" Marketingstrategien weiter zu verbreiten. Es ist schon schwer, hier nicht an den "Verblendungszusammenhang" der kritischen Kulturtheorie zu denken.

Klar ist auch: Es wird damit gerechnet, dass sich das Problem der Ernährung der Weltgesellschaft noch verschärfen wird:
 "Der Großteil des Geldes geht zwar immer noch in die Edelmetalle und den Energiesektor. Doch Agrarrohstoffe werden immer beliebter. Die Zahl der Rohstoff-Fonds nimmt zu. Wenn sie börsengehandelte Indexfonds (Exchange Traded Funds, ETF) kaufen, setzen die Anleger auf steigende Preise."

Nur wenn die Güter knapp werden - ob auf quasi-natürliche (durch steigende Nachfrage durch Bevölkerungswachstum bzw. geänderte Konsumgewohnheiten) oder auf extra-künstliche Weise (durch absichtliche Zurückhaltung, Verdrängung durch expansive Landwirtschaft oder Verödung von Anbauflächen) verknappt - lohnt sich für Anleger mit großem Kapitalvermögen die Investition in Agrarrohstoffe. Für den Hunger ist die leider viel zu hohe Nachfrage verantwortlich - und natürlich das Wetter.

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Das komplette Interview hier:
http://www.faz.net/aktuell/finanzen/devisen-rohstoffe/im-gespraech-kona-haque-macquarie-die-preise-fuer-agrarrohstoffe-geraten-unter-druck-11695373.html

Zum demonstrativen Konsum:
Veblen, T. (2007 [1899]): Die Theorie der feinen Leute: Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen. Frankfurt a. M.

Zum demonstrativen Konsum, zu dessen Genuss dem Konsumenten die Zeit fehlt:
Lindner, S. B. (1969): Harried Leisure Class. Columbia.

Der kritische Agrarbericht 2012: 
Der kritische Agrarbericht. Daten, Berichte, Hintergründe, Positionen zur Agrardebatte. Hamm.

Sonntag, März 25, 2012

Essen und Trinken in der Kunst (1): "Schinkenfinger" (C. L. Attersee)

950.000 Schilling, umgerechnet etwa 69.000 Euro, wurden 1999 bei einer Wiener Kunst Auktionen für die „Schinkenfinger“ C. L. Attersees bezahlt. Es ist aber nur das teuerste und nicht das einzige Bild Attersees, das eine kulinarische Thematik aufgreift. Es gibt zahlreiche andere Werke von ihm (Torte mit Speisekugeln und Speiseblau“ [1967]; „Farbherz mit Spaghetti“ [1967]; „Urpunsch“ [1978]; „Tischwelt“ [1984] etc.) die auf das soziale Totalphänomen des Essens und Trinkens (Marcel Mauss) anspielen. Viele davon muten verstörend an, die „Schinkenfinger“ wirken dennoch besonders grotesk.

Das mag daran liegen, dass das moderne Radikaltabu des Kannibalismus auf diesem Bild in obszön ästhetischer Perspektive persifliert wird. Denn in aller Regel gilt die Menschenfresserei in der Gegenwartsgesellschaft als eine barbarische und damit un-kultivierte Art der Nahrungsaufnahme primitiver Wilder [übrigens ein etwas vorschnelles Zerrbild der vermeintlich Zivilisierten, wie Tannerhill 1982 gezeigt hat]. Auch (hoch-)intelligente Kannibalen wie der fiktionale Hannibal Lecter oder der ganz reale Achim Meiwes heben dieses Bild nicht auf. Sie erschrecken den Zuschauer massenmedialer Formate bloß wie ein bitterböser Schelm, der jemandem hinter einer Tür mit einem lauten „Buh!“ auflauert, aber einen nicht einmal mittelfristig aus dem ausgeleuchteten Allerweltsalltag herauskatapultieren kann. 

Die „Schinkenfinger“ sehen denn auch weder abgerissen noch irgendwie blutig verschmiert aus. Stattdessen sind sie penibel manikürt, sorgfältig hergerichtet und wirken ausgesprochen hygienisch. Morbide Zivilisation à la carte. Der Name des Künstlers prangt oben links in der Ecke wie ein Markenemblem einer angesehenen Fleischfabrikation. Es fehlt nur noch das CMA-Gütesiegel: Die biederste Auszeichnung für „geprüfte Leistung und Qualität“ auf dem Lebensmittelmarkt. 

Die dekorative Darstellung der „Schinkenfinger“ kokettiert damit, auf Reichtum und Schönheit der Welt verweisen zu wollen, nur um gleichzeitig mittels des intendierten visuellen Defekts über das angetäuschte Ziel hinauszuschießen und auf ganz andere, moralisch äußerst bedenkliche Möglichkeiten derselben Welt aufmerksam zu machen: Sadismus kommt nicht zwangsläufig in der Maske des Hässlichen daher, sondern kann durchaus handwerklich perfekt und geschmackvoll herausgeputzt die Bühne betreten – oder vielleicht sogar von einer tadellosen Hausfrau oder einer ausgebildeten Servicefachkraft serviert werden. Bon Appetit. 

Freilich ist dies nicht die einzige Interpretation des Bildes. Es ist genauso möglich, die invalide Erotik dieser verführerisch auf der Strecke bleibenden Damenfinger auch als Scherz aus der Kategorie des schwarzen Humors aufzufassen. Aber dabei wird man es dann nicht einfach stehen lassen können, denn der „Schwarze Humor“ ist mehr als eine Floskel. Dahinter lauert der Surrealismus und der durchschifft das Unerklärliche erst recht ausführlich und umtriebig (Breton 2011 [1979]).


„Schinkenfinger“ von Christian Ludwig Attersee, 1966, Museum der Moderne Salzburg

Attersee (1940 in Bratislava geboren) lebt und arbeitet in Wien, wo er u.a. als Professor der Akademie für angewandte Kunst unterrichtet.


Literatur:

Breton, A. (2011 [1979]): Anthologie des schwarzen Humors. Rogner & Bernhard.

Mauss, M. (1986): Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften. Suhrkamp.

 Tannerhill, R. (1982): Fleisch und Blut. Eine Kulturgeschichte des Kannibalismus. Goldmann.