In der aktuellen Ausgabe der Ernährungs-Umschau
findet sich der von Angelika Ploeger und mir verfasste Artikel Deutsche Ernährungskultur - Trends und Veränderungen. In
diesem Artikel fordern wir in gewisser Weise einen Paradigmenwechseln in der
Ernährungswissenschaft. Der inzwischen klassisch gewordene
naturwissenschaftlich-medizinische Experte, der mit der Autorität seiner
Profession der Gesellschaft und den Klienten (den "Essenden") quasi
"von oben herab" (oder "von hinter dem Schreibtisch") sagt,
was zu essen ist und was nicht, hat sich, so eine der Kernthesen des Artikels, überlebt.
Die Erkenntnis - und die wissenschaftliche Anerkennung! - von Hyperkomplexität
in der Ernährungskultur (als der "Art und Weise wie sich Leute in einer
Gesellschaft ernähren und wie andere sie dabei beobachten") führt dazu,
dass man im Perspektiven- und Aussagenpluralismus immer schwerer zwischen
"wahren" und "falschen" Beschreibungen unterscheiden kann (dies gelingt seriös nur noch bei sehr reduktionischen Element-Relation-Konstellationen).
Denn alle Beobachtungen und Beschreibungen sind gekennzeichnet durch (1) die Positionsabhängigkeit
des Beobachters und (2) durch die notwendige Reduktion von Komplexität. Der
erste Punkt führt dazu, dass Erkenntnisse und Beschreibungen zwischen bspw.
einem Natur- und einem Sozialwissenschaftler, einem Mediziner und einem
Physiker, einem Soziologen und einem Semiotiker, zwischen Experte und Laie,
Berater und Klient etc. immer schon deshalb unterschiedlich sind, weil andere
Blickwinkel, andere Kategorien und andere Zielvorstellungen zum Zuge kommen.
Der zweite Punkt schließt endlich mit der Illusion von "Ganzheitlichkeit"
ab. Die Idee der "Ganzheitlichkeit" suggeriert, man könne, wenn man "nur nicht reduktionistisch" ist,
"quasi alles" in den Blick bekommen. So kurz wie die reduktionistische
Wissenschaft, die sich ausschließlich auf isolierte Elemente konzentriert, auch
greift, so unrealistisch ist die Idee, ein (Ab-)Bild vom Ganzen zu erstellen. Zunächst
müsste das Bild eine Landkarte im Maßstab 1:1 sein, dann würde der Faktor
Zeit das Erstellen der Landkarte zu einem unendlichen Prozess machen,
schließlich müsste man akzeptieren, dass die Landkarte nie das Territorium ist
und man auch nur eine von zahllos nebeneinander existierenden Landkarten entwirft. Und wer beobachtet den Beobachter beim beobachten?
So kann Ernährungskultur (nun verstanden als "Wissenschaft vom Essen
und Trinken") in der hochmodernen Gesellschaft vor allem dadurch glänzen,
dass sie Alternativen aufzeigt, verschiedene Positionen mit einander in
Verbindung bringt, Maßstäbe zur Gewischtung von Faktenwissen bereitstellt, ohne
diese zu verabsolutieren und eine Form der produktiven Unruhe zu stiften, wo
Akteure Situationen als festgefahren erleben. Gute Experten wissen zudem im
Gegensatz zu Laien - die (implizit) oft mehr und genauer Bescheid wissen -
gerade auch um das "Nicht-Wissen" jedes Wissens. Sie bedenken öfter die Kontingenzspielräume, oder "ahnen es schneller", wann man mit dem
traditionellen, konservativen Ernährungslatein am Ende ist und sich auf den Weg
machen muss, neue Wege zu beschreiten.
Kofahl, Daniel/ Ploeger, Angelika (2012):
Deutsche Ernährungskultur - Trends und Veränderungen.
Perspektiven einer modernen Kulturwissenschaft.
In: Ernährungs-Umschau, 7/12. S. 386-391.
Deutsche Ernährungskultur - Trends und Veränderungen.
Perspektiven einer modernen Kulturwissenschaft.
In: Ernährungs-Umschau, 7/12. S. 386-391.